Wer ist Täter? Wer Opfer?

„Die ´großen – existenziellen – Fragen´ können wir nur beantworten, wenn wir an sie mit Kopf, Herz und Bauch herangehen“. Erwin Demichiel geht näher auf das ein, was Johannes Engl in seinem Beitrag „Ein Haus des Friedens“ aufgeworfen hat. Zum Dialog  in der  Rubrik „Reaktionen“ über den Link.


Lieber Johannes,

wie gesagt, erst vor wenigen Tagen bekam ich über David deinen Brief vom August dieses Jahres. Es ist ein schöner Brief, ja er ist tatsächlich schön. Den Text von C. Wecker und die Anerkennung und Wertschätzung unserer Initiative, die du uns daraus als Geschenk präsentierst, nehm ich (auch stellvertretend) gerne und mit Dank an.

Es ist nicht nur ein schöner, sondern auch ein kluger Brief. Er spricht etwas an, das mir gerade in diesem Zusammenhang von Krieg und Frieden besonders am Herzen liegt. Es ist der Versuch, die ungeteilte, verbundene Intelligenz der drei Zentren herzustellen, die wir bildhaft mit Kopf, Herz und Bauch beschreiben. Existenzielle, sog. „große Fragen“ können wir nur so annähernd beantworten. Und ich würde sagen, auf dieser Schiene fährt dein Brief, klug, mitfühlend und abgestimmt.

Zu deinen sachlichen Überlegungen:

Täter-Opfer Umkehr

Ja, wie du sagst, der gesellschaftliche Diskurs polarisiert sich an der Frage, wer die Schuld bzw. die Verantwortung für diesen Krieg trägt. Ich versuch meine Gedanken dazu zu strukturieren:

  • Mit dem Westfälischen Frieden am Ende des Dreißigjährigen Krieges haben sich in Europa u.a. zwei grundlegende neue Prinzipien etabliert: das Völkerrecht und säkularisierte bzw. auf Respekt vor den Interessen des jeweils anderen Staates basierende zwischenstaatliche Beziehungen – d.h. eine auf Interessen und nicht auf Moral basierende Außenpolitik und eine Diplomatie, deren Aufgabe der Ausgleich zwischen diesen Interessen ist.
  • Deshalb würde ich den Begriff der Schuld nicht benutzen, sondern nur den der Verantwortung.
  • Russland hat rein formal das Völkerecht verletzt, indem es in einen anderen Staat einmarschiert ist. Deshalb ist dies formal ein Angriffskrieg und als solcher zu verurteilen.
  • Russland hätte schon viel früher in einer anderen Form seine Sicherheitsinteressen durchsetzen müssen. Frag mich nicht in welcher. Jedenfalls hat Putin in der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 bereits sehr deutlich zur NATO-Osterweiterung gesprochen und sie als Provokation bezeichnet. (*) Beim Bukarester NATO-Gipfel 2008 erklärten dann die USA, dass die Ukraine und Georgien Mitglieder der NATO werden würden. Putin hat dort persönlich und unmissverständlich erklärt, dass dies für Russland unannehmbar sei. Sogar Markus Lanz (!) hat in seiner Sendung auf diesen Umstand hingewiesen und gefragt, ob die weitere Verfolgung der NATO-Mitgliedschaft der Ukraine nach 2007 nicht ein historischer Fehler war. (**)

Wie auch immer, die Geschichte ging weiter, es kamen mit massiver Einmischung der USA 2014 der Maidan-Putsch und die darauffolgenden Bürgerkriegsjahre. Die wirtschaftlich arme, korrupte Ukraine bekam mit US-Hilfe eine der am besten ausgerüsteten und ausgebildeten Armee Europas. Und im Februar 2022 dann der Einmarsch Russlands in die Ukraine. Alles nix Neues.

  • Angesichts dieser Entwicklung hab ich extrem große Schwierigkeiten, den simplen reduktionistischen Standpunkt einzunehmen und zu sagen: Russland hat im Februar 2022 den Krieg begonnen, ein Verbrechen begangen und deshalb trägt es die alleinige Schuld. Sicher, wie du selber sagst, das hilft aus dem Gefühl der Ohnmacht/Hilflosigkeit heraus. Wenigstens hat man den Schuldigen.

Diese Haltung widerstrebt mir zutiefst. Ich fühl mich auf eine kindliche Ebene von gut und bös gezerrt, die Jahrzehnten an Lebens- und Berufserfahrung widerspricht. Dieses sich Lossprechen von aller Verantwortung und es sich in der Opferrolle bequem machen, macht mich zornig. Es geht ganz einfach darum, sich nicht zu weigern, das ganze Bild anzuschauen und eine MITverantwortung für den Beginn des Krieges und somit auch für sein Ende zu übernehmen. Diesem Zorn hab ich kürzlich in SALTO Raum gegeben („Bin ich ein Pazifist?“). Madonna, möchte ich rufen, können wir denn nicht auch mal Erwachsensein spielen?

  • Wir machen bestimmt keine Täter-Opfer Umkehr. Ganz im Gegenteil – nichts wie heraus aus dieser begrifflichen Falle.

Mangelnde Verhandlungsbereitschaft der EU

  • Ich sehe bei der EU keinen Millimeter Verhandlungsinteresse. Wenn man die Ursula hört, wird nur von Hochrüstung und 5% geredet. Der Einsatz weitreichender Raketen wird gefordert. Jetzt wird in der ZEIT sogar ganz offen über die Notwendigkeit einer eigenen Atombombe schwadroniert. Die Deutschen machen mir täglich mehr Angst. Die bereiten sich tatsächlich und leibhaftig auf den Krieg mit Russland vor. Dass sie dort vor nicht langer Zeit 27 Millionen tote Sowjetbürger hinterlassen haben und trotzdem besiegt wurden und jetzt…? Man glaubt es nicht.
  • Russophobie in den Medien bei jeder Gelegenheit! Dauermantra „Putin will keinen Frieden. Putin will nach der Ukraine Europa überfallen.“ usw.
  • Die sicherlich naiven, aber ernst gemeinten Bemühungen von Trump um einen Friedens“deal“ mit Putin lösten bei den Europäern Panik aus. Das politische Personal Europas ist zum Erbarmen.
  • Ein erklärtes Ziel einer starken Fraktion bei den US Think-Tanks war und ist es, Europa von Russland zu trennen. Leider sind zu viele ökonomische/politische Kräfte an einer Fortsetzung des Krieges interessiert.
  • Was die Verhandlungen in Istanbul betrifft, hab ich mangels eigener Quellensammlung die Frage an die KI gestellt. Ich leg die Antwort bei.

Wie Russland an den Verhandlungstisch bekommen

  • Hilfe! Die Frage ist groß und ich kann nicht beantworten. Aber sie hat auch die Prämisse: „Wir möchten und der will nicht“. Krieg beginnen ist leichter als Krieg beenden. Und wenn eine Seite dabei ist, militärisch zu gewinnen, dann hat sie es nie eilig. Vor wenigen Tagen hat der russische Außenminister Lawrow der NATO und der EU einen Nichtangriffspakt angeboten. Die Reaktion unserer Politik in ihren Qualitätsmedien: wir glauben den Russen gar nichts! Aber da ist es wieder sichtbar, das russische Dauerthema: die Forderung nach Sicherheitsgarantien. Meiner Meinung nach ist das der Schlüssel zu allem. Es bräuchte wieder so etwas wie 1975 die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE).

Jetzt lass ich es, Johannes. Auf intelligente Briefe zu antworten ist schön. Es hilft auch beim Ordnen der eigenen Gedanken.

Herzliche Grüße
Erwin

_____________________________________

(*) „In Bulgarien und Rumänien entstehen sogenannte leichte amerikanische Vorposten-Basen mit jeweils 5000 Mann. Das bedeutet, dass die NATO ihre Stoßkräfte immer dichter an unsere Staatsgrenzen heranbringt… Ich denke, es ist offensichtlich, dass der Prozess der NATO-Erweiterung keinerlei Bezug zur Modernisierung der Allianz selbst oder zur Gewährleistung der Sicherheit in Europa hat. Im Gegenteil, das ist ein provozierender Faktor, der das Niveau des gegenseitigen Vertrauens senkt. Nun haben wir das Recht zu fragen: Gegen wen richtet sich diese Erweiterung? Und was ist aus jenen Versicherungen geworden, die uns die westlichen Partner nach dem Zerfall des Warschauer Vertrages gegeben haben? Wo sind jetzt diese Erklärungen? An sie erinnert man sich nicht einmal mehr. Doch ich erlaube mir, vor diesem Auditorium daran zu erinnern, was gesagt wurde. Ich möchte ein Zitat von einem Auftritt des Generalsekretärs der NATO, Herrn Wörner, am 17. Mai 1990 in Brüssel bringen. Damals sagte er: „Schon der Fakt, dass wir bereit sind, die NATO-Streitkräfte nicht hinter den Grenzen der BRD zu stationieren, gibt der Sowjetunion feste Sicherheitsgarantien.“ Wo sind diese Garantien?

(**) https://youtu.be/zakHg8tOzps?si=QLfAKgT6XhomGdaO

Ich weiß nicht welches Datum die Lanz-Sendung hat und wer diesen Kanal betreibt. Die Inhalte finden sich jedenfalls gleich auf Wikipedia.

Vorheriger Artikel
Nächster Artikel

Deine Meinung!

Schreibe uns deine Meinung und Gedanken.
Deine Meinung »

Über den Friedensblog

Die Ideengeber hinter dem Friedensblog sind: Sepp Kusstatscher - Arno Teutsch - Susanne Elsen - Erwin Demichiel - Johannes Fragner-Unterpertinger
Über uns »

Kategorien